Projekthintergrund
Die Erfahrungen großflächiger Krisenereignisse zeigen, dass sich die Unterstützungsbereitschaft der Bevölkerung vorrangig im sozialen Nahraum der Nachbarschaft formiert. Nachbarschaftshilfe in Krisen und Katastrophenlagen hat viele Facetten, die in der Forschung im Bevölkerungsschutz mit dem Konzept community resilience belegt werden. Studien zu den sozialräumlichen Bedingungen wechselseitiger Unterstützungserwartungen und -leistungen legen nah, dass deren konkrete Ausprägungen wesentlich davon abhängen, wie der gesellschaftliche Zusammenhalt im Wohnumfeld der Bürger*innen wahrgenommen und eingeschätzt wird. Als eine zentrale Voraussetzung der Anpassungsfähigkeit sozialer Gemeinschaften in Krisen und Katastrophen ist das soziale Kapital von Wohngebieten jedoch insbesondere in urbanen Räumen höchst ungleich verteilt. Im Bevölkerungsschutz setzt sich daher zunehmend eine Sozialraumorientierung durch, welche die lokalen Bedarfe und Kapazitäten der Bürger*innen durch eine Kombination aus zivilgesellschaftlicher Partizipation und Vernetzung aufnimmt und zur Grundlage der lokalen Bewältigung großflächiger Krisenereignisse macht. Ein sozialraumorientierter Bevölkerungsschutz erweist sich allerdings nicht in allen Wohnquartieren gleichermaßen als erforderlich.
Die lokalen Kontexte unterschiedlicher Raumtypen verlangen nach einer differenzierten Identifizierbarkeit des sozialen Kapitals und des nachbarschaftlichen Zusammenhalts, um knappe Ressourcen im Bevölkerungsschutz angemessen und effektiv einsetzen zu können.
Vor diesem Hintergrund ist das Ziel des vorliegenden Projektvorhabens die Entwicklung eines Sozialkapital-Radars, mit dem sich die soziale Unterstützungsbereitschaft in verschiedenen Krisen und Katastrophenlagen kleinräumig identifizieren und nachvollziehen lässt.
Forschungszugang
Am Beispiel der Stadt Wuppertal, wo sich im Verlauf der Coronavirus-Pandemie eine Vielzahl ehrenamtlicher Nachbarschaftsinitiativen spontan gründete, wird dabei zunächst der Zusammenhang von sozialen Strukturen und lokalem Sozialkapital operationalisiert und im Rahmen einer quantitativen, mehrsprachig umgesetzten Bevölkerungsbefragung empirisch validiert. Die statistische Analyse kleinräumiger Kontexteffekte des Wohnumfelds auf die Unterstützungserwartungen und -leistungen der befragten Bürger*innen bildet den Ausgangspunkt für Erkenntnisse zum Bevölkerungsverhalten in Krisen, die anschließend auf gesamtstädtischer Ebene aggregiert werden. Zusammen mit den verfügbaren kleinräumigen Sozialdaten der Stadt Wuppertal wird auf dieser Grundlage ein interaktives und räumlich skalierbares graphisches Lagebild (GIS-basiertes Dashboard) zum Bevölkerungsverhalten entwickelt, welches es den kommunalen Behörden und Akteuren des Bevölkerungsschutzes vor Ort ermöglichen soll, spezifische Wohnquartiere zu identifizieren, in denen aufgrund erwartet schwächerer Anpassungsprozesse eine stärkere Sozialraumorientierung noch vor Eintreten einer Krise sinnvoll erscheint.
In der Krise kann so auf belastbare Netzwerkverbindungen mit anderen lokalen Akteuren zurückgegriffen werden, die ein rasches Erkennen ehrenamtlicher Nachbarschaftsangebote und besonders vulnerabler Bevölkerungsgruppen (z.B. Pflege- und Hilfsbedürftige, Menschen mit Migrationsgeschichte) in einzelnen Stadtgebieten begünstigen.